Die ostdeutsche Industrie hat sich nach dem scharfen Einbruch Anfang der 90er Jahre neu aufgestellt. Eine moderne industrielle Basis ist entstanden. Flexible kleine und mittelgroße Unternehmen prägen das Bild. Produktion und Beschäftigung sind gestiegen. Regionale Schwerpunkte bilden sich heraus, ebenso einige Standorte für Spitzentechnologien wie Mikroelektronik, Photonik oder neuerdings im Bereich der Elektromobilität. Die neuen Bundesländer sind inzwischen ein attraktiver Standort für Auslandsinvestoren. Die Wirtschaftskraft des industriellen Mittelstandes ist im Durchschnitt allerdings noch deutlich niedriger verglichen mit westdeutschen Wettbewerbern. Kapitalkräftige Großunternehmen mit eigenständigen Unternehmenszentralen sind ebenso noch sehr selten.

Nach dem dramatischen Niedergang der Industrie der ehemaligen DDR in den Jahren nach 1989, auch häufig als Deindustrialisierung bezeichnet, ist die Entwicklung seither sehr positiv. Heute verfügen die neuen Bundesländer einschließlich Berlin wieder über eine industrielle Basis. 17,6 Prozent ihrer gesamten Wirtschaftsleistung kommen aktuell (2019) aus dem Verarbeitenden Gewerbe, in den alten Bundesländern sind es 23,8 Prozent. Rechnet man noch die industrienahen Dienstleistungen hinzu, die eine zunehmende Rolle spielen, ist es sogar über ein Viertel. Dies ist auch im internationalen Maßstab ein hoher Wert.

Starkes Wachstum...

Grundlage für diese Entwicklung war das starke Wachstum der industriellen Wertschöpfung seit 1992, dem Jahr des Tiefpunktes der industriellen Produktion in den neuen Bundesländern. Sie hat sich seitdem real bis heute knapp vervierfacht, die allgemeine Wirtschaftsleistung hat sich verglichen damit „nur“ verdoppelt.

Die Arbeitsproduktivität in der ostdeutschen Industrie lag 2019 mehr als 10 Prozent über dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt der neuen Bundesländer, Bruttolöhne und -gehälter in der Industrie sogar gut 11 Prozent über den Durchschnittseinkommen. Auch die Beschäftigung in der Industrie hat sich erholt und ist bis heute gestiegen. Sie lag 2019 bei knapp 1,1 Millionen Erwerbstätigen.

Die ostdeutsche Industrie hat sich damit als Motor der gesamtwirtschaftlichen Leistung der neuen Bundesländer erwiesen.

Triebfeder dafür waren und sind die vielen kleinen und mittelgroßen Betriebe. Knapp 90 Prozent der Industriebeschäftigten sind hier tätig und etwa 80 Prozent der industriellen Wertschöpfung findet hier statt. Die hohe Gründungstätigkeit in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung hat dafür die Grundlage geliefert.

Heute sind die neuen Bundesländer ein attraktiver Investitionsstandort mit im Vergleich zu Osteuropa hoher Produktivität und Rechtssicherheit.

…mit strukturellen Schwächen

Diese insgesamt recht gute industrielle Entwicklung hat allerdings bis heute auch einige Schwächen. Kritische Faktoren des ostdeutschen Industriestandorts sind schwach ausgeprägte Wertschöpfungsketten und Unternehmenscluster sowie eine insgesamt noch schwächere Innovationskraft als in westdeutschen Gegenspielern.

Besonders in den vergangenen Jahren hat das starke Wachstum deutlich nachgelassen. Waren das erste Jahrzehnt durch einen beachtlichen Aufholprozess mit jährlichen Wachstumsraten von über 13 Prozent und das zweite Jahrzehnt bis zum Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008/2009 noch mit Wachstumsraten von jährlich im Durchschnitt knapp 6 Prozent gekennzeichnet, hat sich das Wachstum danach deutlich abgeschwächt. Zwischen 2010 und 2019 wuchs die industrielle Wertschöpfung real nur noch um gut 2,2 Prozent (Westdeutschland knapp 2,1 Prozent) pro Jahr.

Auch der Industrialisierungsgrad ist in den neuen Ländern erst gut halb so hoch verglichen mit den westdeutschen Ländern. Gemessen an der Bruttowertschöpfung je Einwohner wurden 2019 in den neuen Ländern industrielle Waren im Wert von 4.746 Euro hergestellt, in den alten Ländern waren es 8.919 Euro. Spitzenreiter im Osten sind Thüringen und Sachsen. Pro Kopf der Bevölkerung wird zudem nur halb so viel in neue industrielle Anlagen und Maschinen investiert wie im Westen. Auch Investitionen in Forschung und Entwicklung sind vergleichsweise schwach ausgeprägt.

Auch der Abstand bei der Arbeitsproduktivität ist in der ostdeutschen Industrie mit rund 30 Prozent gegenüber dem Niveau der westdeutschen Industrie noch sehr deutlich und höher als in der Gesamtwirtschaft (rund 20 Prozent). Ebenso der Abstand bei Bruttolöhnen und Bruttogehältern – er ist mit 30 Prozent deutlich größer als der Ost-West-Unterschied in der Gesamtwirtschaft mit 19,5 Prozent. An diesen Abständen hat sich in den vergangenen zehn Jahren wenig geändert, teilweise ist der Abstand sogar wieder größer geworden.

Die Gründe sind vielfältig. Innovationskraft und Investitionen der ostdeutschen Industrie sind bis heute relativ gering geblieben. Die Unternehmen sind eher klein und ihre Produktivität und Kapitalkraft ist dementsprechend niedriger. Vernetzte Industrieschwerpunkte mit starkem, regionalem Fokus sind außer in der Mikroelektronikindustrie um Dresden und der Optoelektronik in Jena nur selten zu finden. Die Industrie ist stark auf Vorleistungen und weniger auf Endprodukte ausgerichtet. Meist besetzen ostdeutsche Betriebe weniger ertragreiche Positionen in den Wertschöpfungsketten. Hochwertige Dienstleistungen wie Werbung, Beratung und Finanzierung entstehen gerade erst an wenigen zentralen Orten. Außerdem ist die ostdeutsche Industrie regional breiter verteilt und häufig auch im ländlichen Raum anzutreffen.

Wenige große Unternehmen im Osten zuhause

Ein weiterer Grund für die geringere industrielle Stärke liegt im Mangel an großen Unternehmen in der ostdeutschen Industrie. Unternehmenszentralen börsennotierter Konzerne sind in Ostdeutschland kaum zu finden. Viele der über 200 Unternehmen der fünf Börsenindizes der Deutschen Börse in Frankfurt (DAX, MDAX, SCALE, TecDax, SDAX) betreiben zwar in den neuen Bundesländern Produktionsstätten, wie BMW in Leipzig oder BASF in Schwarzheide, aber nur 14 haben ihren Hauptsitz im Osten, davon zwei in Jena (Jenoptik und Carl Zeiss Meditec), eines in Weimar (IBU-tec) und elf in Berlin. In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen sind keine Konzernzentralen börsennotierter Unternehmen zuhause. Dies betrifft auch den neuen SCALE-Index aufstrebender, dynamischer Unternehmen. In die Liste der 100 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands schaffen es nur zwei Berliner Unternehmen. Bei den deutschen Weltmarktführern ist die Situation ähnlich: Von 450 Unternehmen, befinden sich lediglich 13 im Osten.

Damit fehlt weitgehend ein wichtiges Element im industriellen Unternehmensspektrum der neuen Bundesländer: Großunternehmen, wie sie für Deutschland insgesamt mit seinen gewachsenen Unternehmensstrukturen typisch sind und die die Stärke des deutschen Industriestandortes mitprägen. „Dieses fruchtbare Miteinander von industriellem Mittelstand und großen Industrieunternehmen sowie effizienten Dienstleistungsunternehmen trägt maßgeblich zur Stärke des Industriestandortes Deutschland bei.“ (Industriestrategie 2030 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, 2019).

Auch kleine und mittlere Unternehmen mit Produktivitätsrückstand

Triebfedern der ostdeutschen Industrie sind insbesondere kleine und mittlere Unternehmen. Überschaubare Betriebsstrukturen bieten durchaus Vorteile, die es zu nutzen gilt: kleine, flexible Unternehmen mit kurzen Entscheidungswegen, hoher Flächenverfügbarkeit und vergleichsweise geringem Kapitalbedarf, um neue Entwicklungen zu initiieren, sind gute Voraussetzungen, um in einer modernen globalisierten Wirtschaft erfolgreich zu sein.

Doch offensichtlich ist es bislang noch nicht gelungen, diese Vorteile in eine höhere Wirtschaftskraft umzumünzen. Denn auch innerhalb der Gruppe der kleinen und mittleren Industrieunternehmen liegt die Produktivität rund 20 Prozent niedriger als in vergleichbaren westdeutschen Unternehmen. Dieser Unterschied ist unabhängig von der Branche, der Technologie und selbst vom Regionstyp (DIW, 2020). Die ostdeutsche Industrie hat ein grundsätzliches Produktivitätsproblem.

Die genauen Gründe hierfür lassen sich nur schwer messen. Sie liegen hauptsächlich in der Innovationseffizienz, der Unternehmenskultur und im strategischen Verhalten, im Gründungsgeschehen, dem Firmenimage und damit auch in der Möglichkeit, Preise am Markt durchzusetzen. In den Wirtschaftswissenschaften spricht man auch vom technologischen Effizienzniveau der Produktion oder der Totalen Faktorproduktivität (siehe hierzu auch Akkordeon 3: Totale Faktorproduktivität).

Hidden Champions

Erfreulich ist, dass trotz allem die Zahl der Unternehmen steigt, die zu Weltmarktführern und kleineren „Hidden Champions“ aufsteigen. Spezialisierung, unternehmerisches Geschick und Weitsicht sind hier die Triebkräfte. In allen ostdeutschen Bundesländern sind solche Hidden Champions zuhause, allerdings beträgt ihr Anteil an der Gesamtzahl in Deutschland lediglich 6 Prozent. Die meisten sind in Berlin (36) Sachsen (29) und Thüringen (15) ansässig. Wenngleich sich der überwiegende Teil in Großstädten wie Berlin, Leipzig, Dresden und Jena befinden, ist eine vergleichsweise hohe Anzahl auch in kleinen und mittelgroßen Städten angesiedelt, viele davon in agglomerationsfernen, ländlichen Räumen.

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Quelle: eigene Berechnung auf Basis von Prof. Dr. Vennohr & WeissmannGruppe, IfL, 2018

Netzwerke und regionale Branchenschwerpunkte

Schon frühzeitig haben sich die neuen Länder darum bemüht, Unternehmensnetzwerke und Branchenschwerpunkte zu fördern. Jedes Land hat hier eigene Akzente gesetzt, meist aufbauend auf industriellen Traditionen und den vorhandenen Potenzialen. Eine Vernetzung untereinander und mit Forschungseinrichtungen ermöglicht kleinen und mittleren Unternehmen, sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren, Kompetenzen auszubauen und Größennachteile auszugleichen. Wachstum und Produktivität sind deutlich höher, wenn Liefer- und Abnehmernetzwerke sowie Wertschöpfungsketten möglichst vollständig sind. So können sich kleine und mittlere Unternehmen im Verbund zu regionalen Branchenschwerpunkten entwickeln und technologische Herausforderungen gezielt angehen. Beispiele sind das Energie-Netzwerk „Hydrogen Power Storage & Solutions East Germany (HYPOS)“, das die wirtschaftliche Erzeugung von grünem Wasserstoff im großen Maßstab verfolgt, das Maschinenbau-Netzwerk SMAB aus Magdeburg, der „BioEconomy“-Cluster, das Automobilnetzwerk ACOD, die Cleantech-Initiative (CIO) und die Netzwerke der Medizin- und Gesundheitswirtschaft in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern.

Regional breit verteilt, aber mit Trend zu Ballungsräumen

Die Industrie ist in den neuen Bundesländern deutlich breitflächiger verteilt als in Westdeutschland. Auch in ländlichen Regionen und in Regionen um Ballungszentren sind häufig Industriebetriebe anzutreffen. Dies ist grundsätzlich positiv zu sehen, da dadurch auch periphere Regionen Anschluss an produktive Entwicklungen der Wirtschaft halten und attraktive Arbeitsplätze vorhalten. Die Gesamtverteilung der ostdeutschen Industrie, das Niveau der Arbeitsproduktivität und der Wirtschaftskraft zeigt wie in ganz Deutschland ein deutliches Gefälle von Süd nach Nord. Ausnahme ist der Großraum Berlin. Sachsen und Thüringen schneiden bei vielen Indikatoren besser ab als das nördliche Brandenburg, der Norden Sachsen-Anhalts und Mecklenburg-Vorpommern. Dieser großräumige Unterschied ist kein neues Phänomen, sondern hat sich bereits während der Anfänge der Industrialisierung in Deutschland herausgebildet. Die südlichen Landesteile erlebten eine grundlegende Industrialisierungswelle, die nördlichen Teile blieben weitgehend agrarisch geprägt. Auch die DDR-Planwirtschaft vermochte nicht, dieses Gefälle grundlegend zu ändern.

Auffällig ist, dass sich die Industriebetriebe häufig in einem größeren Kreis um die großen Städte herum befinden. In diesen sogenannten verstädterten Regionen hat sich die Industrie in den vergangenen Jahren gut entwickelt, wie auch die Karte der regionalen Branchenschwerpunkte verdeutlicht. Diese Entwicklung korrespondiert mit der wirtschaftlichen Situation von Gemeinden in der Nähe zu Ballungsräumen wie die Karte der Wirtschaftlichen Lage der Kleinstädte zeigt. Ostdeutsche Kleinstädte im Umkreis der industriellen Zentren wie Berlin, Dresden, Leipzig aber auch in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen profitieren als Wohnstandort. Gemeinden in Zwischenräumen und weiter östlich gelegenen Regionen verfügen über eine vergleichsweise geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Teilweise liegen Gemeinden mit über- und unterdurchschnittlicher Situation direkt nebeneinander.

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