Die grundlegenden Industriestrukturen in Ostdeutschland reichen zurück bis in die erste Phase der Industrialisierung Deutschlands Mitte des 19. Jahrhunderts. Danach waren sie geprägt durch den rasanten Aufstieg zu einer der wichtigsten Industrieregionen im Kaiserreich, der Weltwirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik, der Herrschaft des Nationalsozialismus und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Verstaatlichungen und der Planwirtschaft in der DDR. Und schließlich durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Länder mit der Einführung der Marktwirtschaft und dem erfolgreichen Aufstieg eines breiten industriellen Mittelstandes.

Kaum eine andere Region der Welt hat so viele fundamentale Umbrüche und Neuanfänge erlebt und bewältigt. Auch künftig werden mit den Herausforderungen der Globalisierung, der Digitalisierung und des kommenden Übergangs zu umwelt- und klimaschonender Produktion wichtige Veränderungen stattfinden. Doch trotz dieser vielen Wechsel sind die ostdeutschen Regionen stets Industrieland geblieben, was sich auch im Selbstverständnis ihrer Bevölkerung widerspiegelt. Die neuen Länder werden in Zukunft wieder eine starke Industrieregion sein.

Gründerzeit: Entwicklung zur führenden europäischen Industrienation

1871 wurde das Deutsche Reich gegründet. Ab dann befand sich Deutschland in einem Wandel von einem überwiegenden landwirtschaftlich geprägten Staat zu einer modernen Industriegesellschaft. In der Hochphase von den 1890er Jahren bis zum Beginn des ersten Weltkriegs löste Deutschland Großbritannien als führende europäische Industrienation ab. Zwischen 1871 und 1914 versechsfachte sich die industrielle Produktion, der Export wuchs um das Vierfache.

Berlin stieg zu einer der größten Industrieregionen Europas auf. Der Raum Magdeburg-Leipzig-Dresden-Chemnitz-Zwickau entwickelte sich neben dem Ruhrgebiet zum größten zusammenhängenden Industrieraum im Deutschen Reich.

Die räumliche Verteilung der Industrie auf dem heutigen Gebiet der neuen Bundesländer hat sich in ihren Grundzügen bis in die Gegenwart erhalten: die Zentren der industriellen Produktion lagen vorwiegend im Süden, in Thüringen, Sachsen und den südlichen Teilen von Sachsen-Anhalt sowie um Berlin. Mit Ausnahme der Hafenstädte (Rostock, Wismar und Stralsund) blieben weite Teile des Nordens weitgehend landwirtschaftlich geprägt.

Nachkriegszeit: Reparation und Flucht in den Westen

Der Zweite Weltkrieg und die anschließende deutsche Teilung beeinflussten die Industrie in Ostdeutschland nachhaltig. Die wirtschaftliche Ausgangslage Ostdeutschlands war zunächst besser als die der Westzonen. Das Gebiet der späteren DDR bildete vor dem Krieg das wirtschaftliche Kraftzentrum des Landes mit Sachsen als Wiege der deutschen Industrialisierung. 1939 lag die Industrieproduktion Ostdeutschlands mit 725 Reichsmark je Einwohner 20 Prozent über der Industrieproduktion Westdeutschlands mit 609 Reichsmark. Die Kriegsschäden waren insgesamt niedriger und betrugen maximal 15 Prozent der industriellen Kapazitäten.

Entscheidende Faktoren für die industrielle Entwicklung Ostdeutschlands in den Nachkriegsjahren waren die vergleichsweise hohen Reparationszahlungen und Demontagen von Fabrikanlagen, Eisenbahngleisen und Transporteinrichtungen, die Abwanderung und Flucht von Menschen und Unternehmen nach Westdeutschland, die Enteignung und Umwandlung von Betrieben zu Sowjetischen Aktiengesellschaften sowie die Enteignung von Großgrundbesitz. Die fortgesetzten Entnahmen aus der laufenden Produktion durch die Besatzungsmacht schadeten der Volkswirtschaft zudem.

Währenddessen beschlossen die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Marshallplan ein umfassendes Aufbauprogramm für Westeuropa. Für Westdeutschland bedeutete dies eine Chance zur wirtschaftlichen Erholung und zum schnellen Wiederaufbau. Die Teilnahme am Marshallplan war der erste Schritt zur Integration in das westliche Wirtschaftssystem. Ostdeutschland ebenso wie die Tschechoslowakei, Polen und andere Länder unter Einfluss der Sowjetunion durften sich auf Drängen Moskaus nicht beteiligen. Das Resultat war die endgültige Ausgrenzung Ostdeutschlands aus dem Wirtschaftssystem der Westzonen. In der Folge von Marshall-Plan-Hilfe und Währungsreform im Jahr 1948 entwickelten sich zwei voneinander getrennte deutsche Wirtschaftsräume.

Haushaltspläne der SBZ-Länder** und Reparationen Oktober 1945 bis März 1947

Quelle:

Zit. nach: Judt M. (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 350, Bonn 1998, S. 112

Hinweis:

*Die Haushaltspläne zeigen einen Zusammenhang zwischen Reparationen und Abführungen der Länderfinanzverwaltung an die Deutsche Zentralverwaltung für Finanzen. Je höher der Anteil für Reparationen war, um so geringer waren Abführungen an den Zentralen Zonenhaushalt, und umgekehrt.
** SBZ - Sowjetische Besatzungszone

DDR-Industrie: Kombinate und Volkseigene Betriebe

Die DDR-Industrie war durch Großstrukturen geprägt. Es gab rund 3.100 Volkseigene Betriebe (VEBs), die meisten gehörten zu den insgesamt ca. 160 Kombinaten. Sie erfüllten sowohl wirtschaftliche als auch gesellschaftspolitische Aufgaben. Trotz staatlicher Kontrolle des gesamten Wirtschaftslebens änderte sich an den räumlichen Strukturen der Industrie wenig. Die Verteilung von Unternehmen mit ihren regionalen Branchenschwerpunkten entsprach mit wenigen Ausnahmen den Vorkriegsstrukturen: die Betriebe ballten sich in den südlichen Bezirken.

Aufgrund der wirtschaftlichen Vorgeschichte verfügte die DDR über einen vergleichsweise hohen Industrialisierungsgrad. Durch mangelnde Reinvestition in die Produktionsanlagen veralteten diese jedoch zusehends, so dass die DDR-Wirtschaft in ihren letzten Jahren kaum mehr wettbewerbsfähig war.

Nach sowjetischem Vorbild wurde die Planwirtschaft eingeführt: eine zentral verwaltete Wirtschaft mit staatlich gelenkten Produktionsplänen, Preisen und Löhnen.

Zahlreiche Industrielle und Unternehmer verloren ihre Firmen ohne Entschädigung. Rund 10.000 Unternehmen wurden als Volkseigene Betriebe (VEB) den Landes- und Provinzialverwaltungen unterstellt oder in Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) zusammengefasst, die der Besatzungsmacht unterstanden.

Großgrundbesitzer mit einem Eigentum von über 100 Hektar wurden im Zuge der Bodenreform 1945 unter der Devise „Junkerland in Bauernhand“ enteignet. Die Parzellen gingen an Landarbeiter, Kleinbauern und Vertriebene. Ab 1952 schlossen sich Bauern zunächst teilweise freiwillig dann auf Druck zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zusammen.

Wendezeit: Transformation, Schock, Therapie

Am 9. November 1989 fiel die Mauer, am 1. Juli 1990 wurde die D-Mark Zahlungsmittel in der DDR und am 3. Oktober 1990 waren die beiden deutschen Länder wieder vereint. Die von vielen Menschen ersehnte Einführung der D-Mark hatte allerdings auch erhebliche Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland und für die Industrie. Neben Hoffnung brachte die Zeit auch große Unsicherheit: Die Begriffe Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit wurden geprägt und mit dem Wirken der Treuhand verbunden.
Die Wirtschaftsleistung der DDR brach nach der Wirtschafts- und Währungsunion in wenigen Monaten um ein Drittel ein. Kein anderes Land Osteuropas erlebte einen derart drastischen Rückgang.

Die ostdeutsche Industrie durchlebte eine tiefgreifende Transformation: Während die alten Absatzmärkte in Osteuropa wegbrachen, musste sie sich auf eine immer stärkere globale Vernetzung einstellen. Dabei waren die Betriebe in den neuen Ländern zunächst weniger produktiv, ihre Produkte oftmals teurer und von schlechterer Qualität. Die Industrieproduktion halbierte sich binnen weniger Wochen. Sie sank bis Ende 1992 auf 27 Prozent des Niveaus von 1988.

Der Treuhand waren die volkseigenen Betriebe übertragen worden. Die Volkskammer beschloss am 17. Juni 1990 das Treuhandgesetz und damit die Privatisierung der Betriebe. Als Privatisierungsbehörde betreute sie zunächst ca. 8.500 Betriebe, später durch Entflechtung 12.534 Unternehmen. Von 1990 noch rund 4 Millionen Arbeitsplätzen in den von der Treuhand verwalteten Betrieben bestanden Ende 1994 noch rund 1,5 Millionen in den nun privatisierten Unternehmen. Die Kosten der Privatisierung überstiegen die Einnahmen, die die Treuhand mit Unternehmensverkäufen erzielte, um ein Vielfaches.

Über die Bewertung der Arbeit der Treuhand gibt es bis heute eine starke Kontroverse. Angesichts der schlechten Verfassung der ehemaligen DDR-Betriebe halten viele Beobachter die schnelle Privatisierung bis heute für erforderlich. Sie habe zudem die Grundlage für einen betrieblichen Neuanfang der ostdeutschen Wirtschaft gelegt. Ihre Kritiker verweisen auf den hohen Verlust an Arbeitsplätzen und an betrieblichen Verflechtungen, der bis heute nachwirkt.

Bilanz der Treuhand

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Reindustrialisierung: Breiter Mittelstand und industrielle Kerne

Aufbauend auf den industriellen Traditionen Ostdeutschlands belebten privatisierte Unternehmen und Neugründungen ab Anfang der 1990er Jahre nachhaltig die ostdeutsche Industrie. Innerhalb der ersten zehn Jahre nach der Wiedervereinigung entwickelten sich die wesentlichen wirtschaftlichen Kennziffern positiv, trotz der schwierigen Transformationsprozesse.

Dazu hat maßgeblich ein regelrechter Gründungsboom beigetragen, der in den ersten Jahren der Aufbauphase einsetzte. Allein im Jahr 1990 wurden ca. 139.000 neue Unternehmen gegründet, bis 1995 wurden insgesamt 510.000 mittelständische Unternehmen errichtet, in denen 3,2 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen in den neuen Ländern – beschäftigt waren.

Das Ergebnis ist heute eine differenzierte und breit aufgestellte Unternehmenslandschaft mit vielen engagierten Unternehmerinnen und Unternehmern. Die Zahl an kleinen und mittleren Unternehmen pro Kopf entspricht heute in etwa der Zahl in den alten Ländern. Die Leistungsfähigkeit ist an manchen Stellen allerdings noch niedriger, zum Beispiel gemessen an der Exportquote.

Ein besonderer Unterschied in der Unternehmenslandschaft in Deutschland besteht heute vor allem in einem Mangel an großen Unternehmen, die in den neuen Bundesländern ansässig sind und besondere strategische Unternehmensfunktionen innehaben. Die meisten Konzernzentralen haben ihren Sitz im Westen des Landes. Dieses Phänomen wird als „Kleinteiligkeit“ der Unternehmenslandschaft der neuen Länder bezeichnet. Darin liegt ein wesentlicher Grund für eine nach wie vor spürbar niedrigere Produktivität und Forschungsaktivität im Unternehmenssektor insgesamt. (Vgl. auch Thema 3: Gelungene Reindustrialisierung mit einigen Schwächen)

Bemerkenswert ist die Rolle der Unternehmen mit überdurchschnittlich schnellem Wachstum, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Rund 3.000 mittelständische Unternehmen zählen in den neuen Ländern dazu. Sie sind in den vergangenen sechs Jahren mit mindestens zehn Prozent pro Jahr gewachsen und haben dabei rund die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze im privaten Sektor der Wirtschaft geschaffen. Diese Unternehmen trugen maßgeblich zu dem beachtlichen Angleichungsprozess der vergangenen Jahre bei.

Wichtig ist auch die Netzwerkbildung zwischen Unternehmen und mit wissenschaftlichen Einrichtungen. Beispiele eines gelungenen Aufbaus einer vernetzten Industrie sind das Optoelektronik-Cluster um Jena mit der Entwicklung von optischen Unternehmen und dem Aufbau von wissenschaftlichen Instituten im Bereich der Photonik-Forschung, oder das Mikroelektronik-Cluster um Dresden, das sich zum führenden Mikroelektronikstandort in Europa entwickeln konnte.